Es ist Donnerstag, der 24. Februar und ich werde nach dem Aufstehen von meiner Mitbewohnerin mit den Worten begrüßt „Russland hat jetzt angefangen zu bomben“. Nach einem kurzen Austausch über die Begebenheiten mache ich mir wie jeden Morgen einen Kaffee. Obwohl die Sonne scheint, ist es ein sehr grauer Morgen und der Kaffee schmeckt bitterer als sonst. Alle Stories, Timelines und Feeds auf allen Plattformen sind voll mit der Thematik und unzählige Bilder aus den betroffenen Gebieten verbreiten sich. Auch im weiteren Verlauf des Tages spitzt sich die Situation im Osten Europas weiter zu und ich spüre, wie mein Herz mit jeder Zeile, die ich über den Konflikt lese und jedem Wort, das ich darüber austausche, schwerer wird.
Noch mehr wird gepostet, immer wieder Updates von zahllosen Seiten. Auch von mir. Ich stelle einen Post der deutschen Tagesschau und einen Spendenaufruf in meine Story. Ich hoffe, dass es irgendjemanden bewegt, komme mir aber gleichzeitig unglaublich dumm vor. Was ändert ein Instagram-Repost, wenn ein paar hundert Kilometer entfernt gerade Menschen leiden müssen, Unschuldige einfach so aus dem Leben gerissen werden und aus dem, was für sie schon immer Zuhause war, fliehen müssen. Wie kann ich mich als privilegierte weiße Westeuropäerin für die Betroffenen aussprechen, wenn ich doch nicht einmal weiß, wie es sich anfühlt, wenn einem die Heimat genommen wird? Ist es genug, einen Aufruf in den sozialen Medien zu posten oder mache ich das nur für mein Gewissen? Was ist die Alternative?
Später an diesem Tag unterrichte ich noch eine Nachhilfestunde in englischer Satzstellung. Wozu? Wenn die Welt gerade von Gewalt und Hass übernommen wird, was bringt es dann einem noch zu wissen, dass das Zeitadverb immer erst nach dem Ort genannt wird?
Heute ist der 25.02. und ein Freitag. Ein Freitag, auf den ich mich schon seit Wochen gefreut habe, da Casper heute sein 3. Album veröffentlicht. Seit dem Release der titelgebenden Single zu „Alles War Schön Und Nichts Tat Weh“ im September letzten Jahres warte ich wie auf heißen Kohlen auf dieses Album. Irgendwie ironisch heute, der Titel. Ich höre mir die Songs an. Die Freude, die ich so lange in mir trug, ist dennoch gedrückt und irgendwie verraucht. Das liegt nicht gar daran, dass die Songs von Casper sowieso schon eine gewisse Schwere besitzen und der Künstler nicht selten zu politischen Thematiken greift. Nein, ich fühle mich schuldig, schuldig und schlecht, dass ich die Platte eines meiner Lieblingskünstler hören kann, während etwas weiter entfernt Menschen Angst um ihr Überleben haben müssen. Mir stellt sich nun eben die Frage: Habe ich dennoch das Recht mich gut zu fühlen und die Songs zu feiern, während solch schreckliche Dinge auf der Welt passieren?
Nachdem diese Frage wiederholt zwischen meinem Kopf und meiner Brust hin und her gespielt wird wie ein Tennisball und ich beobachte, wie sich das Ziffernblatt an meiner Wand einmal um sich selbst dreht, komme ich eigentlich zu nur noch mehr Fragen und Unklarheit.
Ein Krieg ist der Innbegriff für Freiheitsberaubung, Gewalt und Hass. Auch dazu ein so willkürlich geführter Krieg mit der offensichtlichen Intention der Verbreitung von Angst, einfach zum Kotzen. Aber Raub von Freiheit, Gewalt, Hass, Angst, all das, was ein Krieg verkörpert, das ist doch genau das Pendant zur Kunst. Kunst, die Freiheit feiert und versucht mit ehrlichen Gefühlen und tiefen Gedanken eine Nachricht an die Welt zu senden. Keine Angst verbreitet, die Gesellschaften nicht spaltet, sondern zueinander führt. Das ist Kunst. Das ist Musik. Wenn ich also die Casper Platte höre und mit einem anderen Fan darüber rede und wir sie gemeinsam abfeiern, zelebriere ich dann nicht die Freiheit und Gemeinschaft? Sind diese Werte denn nicht gerade heute, an diesem Tag, tausend Mal wichtiger zu feiern und emporzuheben als an jedem anderen? Was passiert, wenn ich Hass mit Liebe und Freiheit bekämpfe?
Ich glaube ihr merkt schon, in diesem Artikel kommen mehr Fragen als normale Sätze vor. Das zeigt wahrscheinlich einfach genau das, was ich in diesen Moment, wie vielleicht viele andere auch, fühle. Auf die Frage, die den Kopf dieser Seite schmückt, habe ich nämlich keine Antwort. Ich weiß es einfach nicht. Ich weiß nicht, wie sehr ich mit den Ukrainer:innen leiden darf, ich weiß nicht, wie ich genau helfen kann und ich weiß auch nicht, wie sehr ich mich über die neue Musik heute freuen darf.
Andererseits kommt bei mir da auch der Gedanke auf: Würde sich ein Mensch, der gerade aus der Ukraine flüchten muss nicht genau das wünschen? Einfach einer Melodie zu lauschen, die einem ein Gefühl von Geborgenheit gibt und gleichzeitig Freude auslöst? Diese:r eine Flüchtende hat die Mittel und Emotionen dazu gerade nicht zu Verfügung. Ich hingegen schon. Ist es dann nicht umso absurder, dieses Privileg zu negieren und mich in eine Solidarität zu begeben, die im Endeffekt einen Mangel projiziert, den ich ja gar nicht erleben muss? Oder ist dieser Gedanke einfach nur ignorant?
Es ist natürlich der komplett verkehrte Zugang, einfach die Augen zu verschließen und die Thematik und Probleme wegzuschieben. Natürlich brauchen wir gerade jetzt von jede:m einzelnen einen klaren, lauten Schrei gegen dieser unfassbaren Gewalt und jede:r, der/die diese Thematik einfach verdrängt und sich nicht darüber austauscht sollte sich meiner Meinung nach wirklich Gedanken darüber machen, was für eine Art von Mensch er/sie sein möchte.
Ich finde es dennoch eine Überlegung wert sich zu fragen, wieso diese Dinge, also Schmerz oder Solidarität und Freude, einander ausschließen müssen. Kann nicht beides bestehen, nur auf anderen Ebenen? Auch wenn Casper sich das wünscht, es muss nicht alles entweder schön gewesen sein oder weh getan haben. Es kann doch auch Dinge geben, die weh tun und einen an manchem Tagen die gesamte Welt hinterfragen lassen. Dennoch ist es möglich, gleichzeitig das Schöne zu sehen, auch wenn manchmal nicht viel davon übrig scheint. Kann ich nicht den Weltschmerz, der gerade begonnen hat, spüren und gleichzeitig meinen Lieblingssong auf voller Lautstärke hören?
Während meine Fragezeichen noch eine Weile so in meinem Kopf stehen bleiben werden, versuche ich zumindest ein Bisschen etwas zu tun. Ich möchte das machen, was immerhin einen Bruchteil, vielleicht auch nur eine Sandkorngröße, hilft. Mit anderen Menschen in meinem Umfeld über die Ereignisse sprechen, in meinem Rahmen Verfügbares zu spenden und vielleicht doch noch den ein oder anderen Instagram-Post machen. Vielleicht hört es ja doch jemand, der/die noch nicht von 1000 anderen Kanälen zugetextet wurde.
Ich habe auch hier im Anschluss an diesen Eintrag ein paar Links hinzugefügt, die zu vertrauensvollen Spendenplattformen führen. Aber auch Posts, die Klarheit darüber verschaffen, wie man sich online und offline gerade am besten verhält. In der Kommentarsektion am Ende dieser Seite könnt ihr auch gerne ein paar Zeilen da lassen, vielleicht habt ihr ja ein paar Antworten auf meine vielen Fragen.
Und einen Entschluss habe ich dennoch noch gefasst: Bis sich der Gedankennebel in meinem Kopf löst, höre ich weiterhin die neue Casper Platte, möglichst ohne dieses schlechte Gewissen. Denn Musik bedeutet Freiheit. Wenn die jede:r lebt und zelebriert, dann wird sie vielleicht irgendwann einmal doch lauter sein als die Waffen. Vielleicht können wir dann am Ende sogar auch noch so etwas sagen wie „Alles war schön und trotzdem tat es weh“.
Spendenaktionen:
Caritas: https://www.caritas.at/spenden-helfen/auslandshilfe/katastrophenhilfe/laender-brennpunkte/ukraine
Amnesty International: https://action.amnesty.at/spende/Ukraine-Russland-Konflikt?utm_source=fun&utm_medium=email&utm_campaign=ukraine
Ärzte ohne Grenzen: https://www.aerzte-ohne-grenzen.at/ukraine
Umgang mit dem Russland-Ukraine Krieg in (sozialen) Medien:
Was kann ich als Außenstehende:r tun, um zu helfen?
Aufschlussreicher Artikel hier:
Telefonische Hilfe bei Sorgen (Österreich):
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